Wir alle haben unsere „Core woundings“, unsere Kernverletzungen. Wenn du ein Mensch bist, dann kennst du das, auch wenn du dir dessen unter Umständen nicht bewusst bist. Es ist ein Ort, den wir meiden, mit allem was wir haben. Denn dort sitzt tiefer Schmerz gebunden, in einer so großen Dimension, dass wir das alles auf einmal gar nicht aushalten können. Der Kern von allem eben. Und das, was uns ausmacht. Denn diese Kernverletzungen prägen uns, und solange sie im unbewussten verweilen, limitieren sie uns auch. Schränken uns ein in unserer Freiheit zu Sein. Auf die ein oder andere Weise, je nachdem welche Wunde es ist.
Ich komme gerade aus einem 5-tägigen Workshop. Naked Soul. Die nackte Seele, oder wenn man so will, der Ort, an dem wir in unserer Verletzlichkeit sind. Und mich erstaunt es immer wieder, wie viele Menschen diesen Ort nicht aushalten. Dabei ist es das größte Geschenk was wir haben und anderen Menschen machen können.
Wie Bréne Brown, die sich jahrzehnte lang mit dem Thema Vulnerabilität auseinandergesetzt hat, es so schön auf den Punkt bringt: "Vulnerability is the birthplace of joy, creativity, love and belonging!“
„Vulnerabilität ist der Geburtsort von Kreativität, Freude, Liebe und Zugehörigkeit.“ Und es ist der akkurateste Anzeiger für MUT.
Am letzten Tag des Workshops hatte ich in der „Repetition“, einer der Übungen, die wir 5 Tage lang jeden Morgen, immer mit unterschiedlichen Menschen gemacht haben, eine Frau als Gegenüber, die meine Verletzlichkeit schier nicht ausgehalten hat.
Mit jedem einzelnen Satz, den sie zu mir gesagt hat, hat sie versucht mich daraus zu holen, auszuweichen, zu flüchten. Sie hat alles versucht um mich aus dem Ort der Berührbarkeit, der Gefühle, des offenen Seins zu entfernen. Sie wollte meine Verletzlichkeit nicht zu spüren, denn wenn sie den Ort mit mir betreten hätte, wäre sie Gefahr gelaufen, dass es sie aufbricht. Dass auch sie an diesen Ort gerät, an dem wir unserem innersten begegnen, auch den Gefühlen, die wir meiden. Allen voran Schmerz. Und da wollte sie absolut nicht hin. Und das hat sie auch sehr deutlich gesagt. Dennoch kam sie nach der Übung irgendwann zu mir und hat sich bedankt, für die „Lektion“, die ich ihr erteilt habe. Dadurch, dass ich so sehr bei mir geblieben bin – und in meiner verletzlichen Offenheit…
Es gibt kein Gefühl, dass wir mehr vermeiden als Schmerz. Und der Ausdruck von Schmerz ist Trauer. Für mich fühlt es sich immer wieder so an, als würde ich bei meinen Prozessen und Erfahrungsreisen genau zu meiner Kernverletzung kommen. Als würde es da nicht mehr weitergehen. Als ist es DAS, worum es ganz in der Tiefe geht. Als hätte ich alles, was davor kommt oder darüber liegt abgearbeitet. Und das es das ist, was am Ende übrig bleibt. Das, wo es richtig in die Tiefe geht und unsere (alte) Identität auf dem Spiel steht.
Und dennoch fühlt es sich gut an, und wahrhaftig, all das zu spüren, was da ist. Auch die Trauer und den Schmerz. Und inmitten all dessen finde ich auch eine Ruhe, ein „standing“, einen Boden der mich trägt und mich SEIN lässt. Daraus wachsen solide Wurzeln, die mich ankern und mir das Gefühl geben, dass alles seine Richtigkeit hat. Dass ich zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, mit den richtigen Menschen bin. Es hat fast etwas von dem Gefühl des Alleinseins. Es ist wie eine Ahnung davon….
Joseph Campell hat das so schön beschrieben: „it is by going down into the abyss that we recover the treasures of life. Where you stumble, there lies your treasure. The very cave you are afraid to enter turns out to be the source of what you are looking for. The damned thing in the cave that was so dreaded has become the center.“
Das, was wir am meisten fürchten, verwandelt sich in einen der größten Schätze, wenn wir uns trauen dem in der tiefe vergrabenen zu begegnen.
Ich habe extrem emotional geträumt in den letzten Tagen des Workshops. Die Gefühle in meinen Träumen waren so intensiv, dass ich davon aufgewacht bin und für einige Stunden nicht mehr einschlafen konnte. Meine Seele hat nachts sehr klar mit mir kommuniziert und mir bildlich vor Augen gehalten worum es bei mir geht und was geheilt werden möchte. Nichts davon war mir fremd, ich kenne meine Wunden und Baustellen, und doch ist es immer wieder krass mit der vollen Ladung konfrontiert zu werden und das alles auf einmal zu fühlen. Die Dimension zu erkennen dessen, was in der Tiefe verborgen liegt.
Das, was wir ganz weit drinnen vor anderen verstecken, womit wir uns nicht trauen uns zu zeigen. Das, wo wir ganz schnell den Deckel wieder zu schlagen und uns auf die Kiste setzen, wenn wir auch nur einen Schimmer davon zu sehen bekommen. Nicht nur wegen dem Schmerz, sondern auch wegen der Scham, überhaupt so eine tiefe Wunde zu tragen. So „versehrt“ oder im inneren so „zerbrochen“ zu sein.
In meinem letzten Traum hatte ich ganz klar das Bild und Gefühl dessen, wie es sich anfühlt das immer in mir zu verstecken. Mich nicht damit zu zeigen, den Kontakt damit zu vermeiden, weil ich das so schlecht aushalten kann, weil es immer wieder so überwältigend ist, wenn ich damit in Kontakt komme. Also packe auch ich das ganz weit weg und gut ein mit vielen Schichten.
Aber naked soul heißt nicht umsonst so. Und es ist nicht umsonst einer der am höchsten angelegten Workshops deren Teilnahme die vorherige Teilnahme an allen anderen Workshops der 5 Rhythmen Hierarchie voraussetzt. Es geht darum sich „nackt“ zu machen, nicht durch das Ablegen von Kleidung (obwohl das bei Temperaturen zwischen 30 und 40 Grad in einem Raum mit 80 Menschen, die sich die Seele aus dem Leib tanzen teilweise auch der Fall war)…
Sondern auf Seelenebene. Eben dort, wo es tief und ans Eingemachte geht. Wo es darum geht all die Schichten wieder abzulegen, die wir uns als vermeintlichen Schutz zugelegt haben. Bis das zu Tage tritt, was wir eben immer heimlich zu verstecken versuchen.
In meinem Traum in der letzten Nacht habe ich meine Kernwunde gesehen und gespürt. Das Gefühl abgrundtiefer Einsamkeit kam als riesige Welle durch mich hindurch, hat mich geflutet. Das, was ich im wachen Zustand, wenn ich damit in Kontakt bin nicht artikulieren kann, weil es keine Worte gibt, die die Dimension dessen beschreiben können, was ich fühle und auch, weil es so groß ist, dass ich es nicht aussprechen kann, weil es mir schier die Sprache verschlägt.
Es ist nicht einfach nur Einsamkeit. Einsamkeit kenne ich auch und damit kann ich sein. Es ist vielmehr ein Gefühl, dass ich von ganz früh her kenne. Dass ich ganz alleine bin auf dieser Welt, dass es niemanden gibt, der mich versteht und genug liebt, um wirklich für mich da zu sein. Auf den ich mich verlassen kann. Auf englisch würde ich sagen: „There is no one who loves me enough to really care about me.“
Als Erwachsene kann ich sehen, dass das so nicht stimmt, aber wenn die volle Ladung davon da ist, dann ist es das, was ich als Kind empfunden habe. Und damals war ich klein und die Gefühle groß. Und es war unendlich einsam und verlassen in meiner Welt, in der ich aufgewachsen bin und in der es keinen Ort gab, an dem ich willkommen war oder nach Hause hätte kommen können. Denn zuhause gab es vor allem Gewalt, Unterdrückung, Erniedrigung und Zurückweisung. Es gab nichts und niemanden, zu dem ich gehört habe. Ich war allein. Und ich wusste, wenn ich es nicht schaffe mein Überleben in all dem Wahnsinn zu sichern, dann wird es niemand anderes tun. Und so hat diese abgrundtiefe Einsamkeit auch etwas sehr Existenzielles. Und auch gleichzeitig etwas sehr Vertrautes. Ich kenne mich aus in diesem Terrain…
Aber es gab noch etwas in diesem Traum. Und das ist auch der Grund, warum ich das alles hier schreibe. Und zwar die Einladung meiner Seele mich damit zu zeigen. Das, was ich in mir verstecke sichtbar zu machen. Es war das Bild eines Umhangs oder Mantels, dessen Innenseite niemand sehen darf und die Einladung diesen Mantel umzudrehen und mit der Innenseite nach Außen zu tragen. Damit das versteckte nicht mehr versteckt wird, sondern gesehen werden kann. Dann bin ich aufgewacht und lag wach und wach und wach und habe es wirken lassen.
Und so habe ich am letzten Tag des Workshops meine Innenseite Außen getragen. War voll da mit meinen Gefühlen und mit meiner Verletzlichkeit. Mit meinen Tränen, meiner Angst und Wut, mit meiner Kraft und Ruhe. Es war alles da und ich habe damit getanzt.
Am Ende bei der Verabschiedung der 80 MittänzerInnen bekam ich von Jemanden als Feedback zu meiner letzten „Repetition“, dass es ihn sehr berührt und auch beeindruckt hat, wie sehr ich bei mir geblieben bin, bei meiner weichen, verletzlichen Offenheit, ganz unbeeindruckt davon, dass mein Gegenüber bemüht war davon weg zu kommen… Und wie sehr ich darin für andere spürbar war.
Seit meinem krassen Traum frage ich mich, wie die Welt wohl wäre, wenn wir alle unsere Wunden zeigen würden statt uns immer nur damit zu verstecken. Denn wenn wir uns verstecken, sind wir nicht (ganz) da! Wir teilen immer nur einen Teil von uns und der andere sitzt geknebelt im dunklen Keller. Dabei ist genau das der Teil, der so wichtig ist für uns und andere. Der, der genau wie wenn wir uns eingestehen einen Fehler begangen zu haben, einen Herzensraum öffnen kann, der alle anderen Menschen im Umkreis berührt. Der Verbindung schafft…
Was würde das mit den Menschen machen, wenn mehr Verletzlichkeit da wäre statt immer nur Schutzmauern an denen man abprallt, wenn man nach Kontakt und Verbindung sucht?
Bréne Brown hat mal gesagt, dass Schmerz, der nicht gefühlt wird, zu Angst oder Hass wird. Ich kann das nur bestätigen. Und es ist traurig mit anzusehen, wie wir als Menschheit uns lieber mit Hass und Angst abgeben, was beides zu Trennung führt, als mit dem Schmerz. Denn Schmerz hingegen, wenn wir uns erlauben ihn zu fühlen und ihm zu begegnen, öffnet das Herz und schafft Raum für Verbindung und Dankbarkeit.
Vielleicht ist ja der erste Schritt für eine friedlichere Welt der, dass wir ganz zu uns und unseren Wunden stehen, sie als Mantel im Außen tragen, uns sichtbar machen mit unserer „Zerbrochenheit“ und unserem Schmerz. Um dann zu lernen, dass wir damit nicht alleine sind. Dass es noch andere gibt, die die gleiche Wunde tragen. Und dass wir sehen und voneinander lernen können, dass man durch den Schmerz hindurch gehen kann und sich dann die Türe zu Verbundenheit und Dankbarkeit öffnet…
In Liebe für uns Menschen in unserer Verletzlichkeit und mit all unseren Wunden,
Steph