Ich habe von einem Jahr bei einem Schamanischen Seminar einen Menschen kennengelernt, der vor zwei Jahren seine Frau verloren hatte. Dieser Mensch wirkte leblos und depressiv und war auf der Suche nach Heilung. Er vermied jedoch jeglichen Kontakt zur Trauer, was genau dazu führte, dass er in ihr stecken blieb. Während des Kurses sollte ich mit ihm eine Übung machen, die er genau in dem Moment abgebrochen hat, als er mit der Trauer in sich in Berührung kam. Sein Schmerz war so deutlich spürbar, genau wie seine enorme Angst davor. Und der Versuch sie zu vermeiden.
Ironischerweise führt die Vermeidung von Schmerz und Trauer genau dorthin, wo wir nicht hinwollen! Nämlich, dass wir mittendrin stecken bleiben, umgeben sind von ihr, nicht im Stande, uns da raus zu bewegen. Und nicht selten endet das in Depression. Dieser Mensch im Seminar ist mir sehr in Erinnerung geblieben, als abschreckendes Beispiel dafür, was passiert, wenn man sich nicht erlaubt zu trauern und den Schmerz zu fühlen, der da ist und gefühlt werden will.
Gefühle sind unsere Freunde und nicht unsere Feinde. Alles was sie wollen ist anerkannt und gefühlt werden. Dann können sie sich wandeln und schaffen Raum für anderes. Allen voran für Öffnung!
Ich kann sehr gut verstehen, dass es eine Intensität an Schmerz gibt, die man nicht fühlen will, weil es sich anfühlt, als würde es einen bei lebendigem Leib in Stücke reißen. Als würde man das nicht überleben, wenn man das zulässt. Ich kenne das Gefühl zu gut. Und weiß es trotzdem besser ;) Ja, es fühlt sich so an. UND, ich habe noch nie Jemanden dabei sterben sehen, wenn er/sie durch den schlimmsten Schmerz hindurchgegangen ist. Inklusive mir! Ich habe jedoch sehr wohl Menschen sterben sehen, in ihrem Versuch, vor den Gefühlen zu flüchten. So lange, bis nicht mehr viel leben in ihnen übrigblieb, oder bis es so aussichtslos wurde, dass sie freiwillig aus dieser Welt gegangen sind.
Depression ist eine der häufigsten Todesursachen. Und ich habe gerade meinen engsten Freund an sie verloren.
In den letzten Wochen vor Jacos Tod war sein tiefer Schmerz für uns alle so sehr spürbar. All der Schmerz, den er sich so lange nicht erlaubt hat zu fühlen. All die Tränen die er nicht geweint hat. Die Trauer um die Trennung von seiner Frau, den Schmerz, die Einsamkeit… Irgendwann wurde all das, was sich in den letzten 11 Jahren, in denen ich ihn kannte, aufgestaut hatte mit dem aktuellen Schmerz einfach zu viel.
Als ich den Anruf bekam, dass sich Jaco das Leben genommen hat, saß ich auf einer Bank auf einem Spielplatz. Ich hatte meine Tochter gerade von der Schule abgeholt und wir waren noch ein Eis essen gegangen. Der Schock kam mit so einer Wucht und ich wusste, ich kann das alleine nicht halten. Das war am Freitagnachmittag vor Pfingsten und alle waren weggefahren… Ich wusste nur, ich will damit nicht alleine sein. Also bin ich am nächsten Morgen zum SAM Institut in der Nähe von Aschaffenburg gefahren, weil ich wusste, dass die dort mit allem umgehen können.
Und habe das größte Geschenk überhaupt erhalten. Wir wurden dort ganz liebevoll und mitfühlend empfangen. Und am zweiten Abend wurde mir die Möglichkeit gegeben, mir den Raum von allen Menschen, die gerade zu Besuch beim Institut waren, unter Susannes Leitung, halten zu lassen. In dem Moment, wo mir das angeboten wurde, stieg sofort Traurigkeit in mir auf, und ich wusste, das wird nicht einfach. Ich kannte niemanden von denen, sie waren mir alle Fremd. Und gleichzeitig wusste ich, dass ist meine Einzige Chance wirklich loszulassen. Und dem enormen Schmerz in mir Raum zu geben. Ich weiß, dass Schmerz gesehen werden will. Und gefühlt. Und beides zusammen ist eine Herausforderung, und gleichzeitig der Weg zur Heilung.
Und ich war an einem Punkt, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte.
Und so habe ich das Angebot angenommen.
Der Raum wurde für mich hergerichtet und alle Menschen saßen in einem Kreis auf Matten, als ich in den Raum geholt wurde. Ich habe mich in die Mitte gesetzt und gemerkt, dass es in mir etwas gab, wo ich das Gefühl hatte, es bräuchte so etwas wie eine Erklärung, damit ich weinen könnte. Als bräuchte es einen Grund als Erlaubnis. Und gleichzeitig konnte ich es auch nicht aussprechen.
Ich habe mich dann in die Mitte in den Kreis der Menschen gelegt. Einige haben über mich gewacht und den Prozess und das Feld mitgehalten. Andere haben mich berührt und mir durch den Kontakt Erdung gegeben, so dass ich den Mut hatte loszulassen und mich meinem Schmerz hinzugeben.
Ich habe die Tore geöffnet und alles fließen lassen. Ich habe mich durchschütteln lassen von Schmerz, Wut, Trauer, habe am ganzen Körper gezittert und geweint und wenn ich dabei aufgehört habe zu atmen, weil wieder eine neue Welle kam, dann wurde ich sanft dazu eingeladen weiter zu atmen. Das ging so Stunde um Stunde, so lange, bis alle Tränen geweint und alle Gefühle gefühlt waren.
Ich habe keine Ahnung wie lange ich geweint habe. Der ganze Schock, die ganze Trauer sind aus mir herausgeflossen und ich habe es Welle um Welle einfach geschehen lassen. Ich wusste, dass es irgendwann, wenn nichts mehr da ist, von alleine aufhört. Dann, wenn alle Tränen geweint und aller Schock abgezittert ist. Und so war es irgendwann dann auch.
Es war so eine unglaublich schöne und heilsame Erfahrung zu spüren, wie sehr all diese Menschen eingetuned waren in mich und mein Feld. Ich konnte die einzelnen Berührungen wahrnehmen, mich in ihnen verankern und letztlich auch dadurch erst einem Anteil von mir begegnen, der am Ende den Frieden brachte.
Trauer und die Verarbeitung von Trauer verläuft in Phasen und weil ich um die Phasen wusste, konnte ich gut mit ihnen sein, in dem Wissen, dass sie sich immer wieder verändern würden.
Die Phasen verlaufen nicht bei allen gleich, manche Menschen überspringen einzelne Phasen oder die Reihenfolge ist eine andere, und manche, die die Trauer vermeiden, bleiben auch darin stecken. Aber in der der Essenz ist es immer das gleiche.
Die Phasen der Trauer sind:
1. Verleugnung
2. Wut oder Protest
3. Trauer, vermissen
4. Angst
5. Rationalisieren
6. Akzeptanz
7. Vergebung
8. Dankbarkeit
Und ich konnte beobachten, wie ich teils nacheinander, teils gleichzeitig durch die (meisten) Phasen gegangen bin. Oder sollte ich sagen: gegangen wurde? Es ist nichts, was ich willentlich entscheide. Es passiert einfach. Und es hat Stunden gedauert, Stunden, die mir all diese wunderbaren Menschen geschenkt haben, mit ihrer liebevollen Präsenz, und ohne die ich diesen Prozess nicht so hätte durchlaufen können.
Die ersten Wellen des Schmerzes die kamen, waren Wellen der Vermeidung. Gefühlt war das die längste Phase. Mein Kopf bewegte sich die ganze Zeit von links nach rechts und zurück, und in mir habe ich gespürt wie alles in mir immer wieder ruft: „nein, das kann nicht sein! Es kann nicht sein, dass er einfach gegangen ist! Das kann nicht sein!“ Der Schmerz war so enorm, ich konnte es einfach nicht fassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als durch die Wand aus Schmerz hindurch zu gehen. Die Wand, die mich schon seit zwei Tagen von meiner Tochter und anderen Menschen trennte. Ich war nicht Fähig in Kontakt zu gehen. Also habe ich den Schmerz gefühlt, ihn zugelassen und geweint, geatmet, die Berührungen wahrgenommen, geweint, geatmet, Berührungen wahrgenommen….
Bis ich irgendwann den Kontakt zu Jaco, dem Menschen, der mir sehr nahe stand, wieder fühlen konnte. Er kam mir nahe, ich konnte ihn in einem Meter Entfernung sehen. Und damit kam dann die nächste Phase, in der zu dem Schmerz Wut hinzu kam. Wut auf ihn. „Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?!!!“ Dieser Satz ging mir immer wieder durch den Kopf. Auch damit war ich eine ganze Weile. Bis auch das wieder ging und abgelöst wurde von der nächsten Welle.
Nach der Wut kam wieder mehr Trauer und Schmerz. Welle um Welle. So wie unser System das halt macht. Und dann kam wieder eine Phase, in der ich meinen Kopf geschüttelt habe. Aber diesmal war es nicht aus Verleugnung. Ich habe etwas gebraucht um zu verstehen warum mein Kopf sich hin und her bewegt. Bis ich diesen Schmerz, der dann da war, einordnen konnte.
Es hat sich ein Anteil von mir gezeigt, der all diesen Schmerz nicht mehr aushält, und der selber gehen wollte. In mir hat dann innerlich alles angefangen zu schreien "ich will nicht mehr! Ich will weg“. Und genau in diesem Augenblick hat Jemand meine beiden Fußgelenke gegriffen und mich damit hier gehalten. Und dadurch, dass Jemand meinen inneren Kampf gespürt und mich darin geankert hat, konnte ich mir selbst begegnen, in Kontakt gehen mit diesem Anteil von mir, der es nicht mehr aushält in dem irdischen dasein, in dem Schmerz, den ich als Mensch hier erlebe.
Es war so ein unglaubliches Geschenk diesem Anteil von mir begegnen zu können! Ich habe ihn liebevoll zu mir genommen und ihn voller Mitgefühl umarmt. Dann versiegten die Tränen plötzlich und eine tiefe Stille trat in mir ein. Und Frieden. Es war, als hätte ich Frieden mit mir selbst geschlossen. Damit, dass ich als Mensch verkörpert auf dieser Erde bin. Und damit, dass das Schmerz bedeutet.
Nachdem es in mir ruhig und friedlich wurde, und klar wurde, dass keine neuen Wellen mehr kommen, haben sich einige einfach zu mir gelegt. Ich höre an der Stelle noch Susannes Stimme in meinem Ohr, wie sie sanft zu mir gesagt hat: „lass es zu“… Und erst danach konnte ich mich darin entspannen, von den anderen so eng umgeben und gehalten zu werden. Meine Anspannungen loszulassen und mich auch dem hinzugeben. Und dann konnte ich es genießen, mich ausruhen und auftanken.
Nach und nach fuhren dann irgendwann die meisten Menschen, die mich an dem Abend begleitet haben wieder nach Hause. Zwei blieben noch bis mitten in die Nacht hinein bei mir, haben mich gehalten, so dass ich nicht alleine war und auftanken konnte. Meine Dankbarkeit für das SAM Institut und alle Beteiligten ist unendlich. Es war eine der wertvollsten und heilsamsten Erfahrungen meines Lebens.
Nach diesem Abend kamen für einige Tage keine Tränen mehr. Ich war leer und verbunden. Ich konnte wieder in Kontakt gehen mit meiner Tochter, die die ganze Zeit über, während ich abends im Prozess war, von Anke liebevoll umsorgt wurde…
Durch diese Erfahrung bei den SAMs ist in mir der Wunsch gewachsen, irgendwann einen Ort zu schaffen, der genau so etwas leisten kann. Ein Ort, an dem man sein kann, wenn man gerade nicht weiß wohin mit sich in seinem Schmerz, seiner Trauer. In Momenten, in denen man nicht weiter weiß, und wo es Menschen gibt, die das mit halten können...