Präsenz im Wandel

Ich stehe im Gesundbrunnen am Bahnhof und habe noch viel Zeit bis mein Zug fährt. Während ich unter dem Dach zwischen dem Denns Biomarkt und McDonalds stehe, um trocken zu bleiben, weil es regnet, höre ich Musik und beobachte die Menschen. Bei McDonalds sitzt ein gut gekleideter Mann mit Aktentasche. In der linken Hand hält er sein Handy und liest, während er frühstückt. Die rechte Hand sucht die Serviette. Als er sie nicht findet, reißt er sich mit den Augen von seinem Smartphone los um hinzuschauen wo sie liegt und sie dann zu benutzen. Danach kleben die Augen und seine Aufmerksamkeit wieder auf dem Display. Ohne die Augen wegzubewegen greift er den Pappbecher und nimmt einen Schluck und selbst dabei liest er noch. Er stellt dann aber fest, dass das Loch im Plastikdeckel auf der anderen Seite ist, so dass er doch noch einmal schauen muss wo. Er dreht (hinschauenderweise) den Becher so, dass die Trinköffnung im Deckel ihm zugewandt ist. Um dann zu trinken und sich dabei wieder seinem Display zuzuwenden. Garantiert hat er am Ende keine Ahnung wie das geschmeckt hat, was er gegessen und getrunken hat!

Ich finde solche Beobachtungen erschreckend. Und was noch viel schlimmer ist: sie sind erschreckend normal. Sie sind zur Norm geworden, nicht zur Ausnahme. In der U-Bahn sitzen allen an ihren Smartphones mit Facebook und Co., am Bahnhof beißen die Menschen in ihr Frühstück während sie zum nächsten Gleis hetzen. Was tun wir uns eigentlich an?

 Alles gibt es „to go“, weil niemand mehr die Zeit hat zu bleiben.

Ich finde diese Entwicklung nicht nur beängstigend, sondern auch bedrohlich im Angesicht dessen, was wir für uns und die nachfolgenden Generationen erschaffen.

Wir sind soziale Wesen. Wir brauchen realen Kontakt, Berührung, Nähe und vor allem Präsenz, um uns Verbunden fühlen zu können.

Aber wir sind zu beschäftigt um uns danach zu sehnen. Wir sind so sehr mit allem möglichen beschäftigt, dass wir kaum mehr wahrnehmen was uns fehlt. Und was wir dadurch immer weniger finden.

Und hier beginnt der Teufelskreis, die Spirale, aus der der Ausstieg immer schwieriger wird: Wenn wir uns keine Zeit für uns selbst nehmen, dann fühlen wir uns schnell nicht mehr verbunden, und dann springt schnell der Überlebensmechanismus an. Auch genannt Survival Mode. Dann fühlen wir uns nicht mehr sicher. Und im Survival mode machen wir vor allem eins: wir entfernen uns immer mehr von uns selbst. Wir machen es dann wie das Männchen auf dem grün-weißen Notausgangsschild. Wir schneiden uns vom Rest des Körpers unterhalb unseres Kopfes ab und rennen in den Keller.

Was es dann braucht ist eine sichere Umgebung, in der wir die Stufen aus dem Versteck wieder hervorkommen und wieder Kontakt mit dem Rest unseres Körpers machen können. Die sichere Umgebung entsteht aber vor allem durch Präsenz, Aufmerksamkeit und Kontakt. Und: Pause machen. Erstmal anhalten. Von unserem WAHNSINNstempo wieder runter kommen. Achtsamer werden. Zeit nehmen, mehr Raum geben..

Aber wenn ich nicht mal anhalte um in RUHE meinen Kaffee zu trinken, oder im Sitzen mein Frühstück zu essen, wie soll ich dann Pause machen um mich zu spüren???? Und wenn ich mich nicht spüre, wie soll ich dann anwesend sein? Und präsent sein mit einer anderen Person? Und wo bleibt Kontakt und Verbindung wenn nur eine(r) da ist, oder irgendwann garkeine(r) mehr? FUCK, was machen wir hier eigentlich als Gesellschaft?????

Michael Ende hat es in den 80er Jahren bei MOMO schon so schön beschrieben, was für uns bittere Realität geworden ist. Keiner hört mehr zu, niemand hat mehr Zeit und stattdessen haben wir alle Schulden bei den grauen Männern, die unsere Stundenblumen rauchen.

Und an der Stelle möchte ich noch kurz einen ganz banalen und doch so Lebenswichtigen Zusammenhang erwähnen. Kontakt und Präsenz führen zu Verbindung. Verbindung führt zu einem Gefühl der Sicherheit. Verbindung und Sicherheit sind DIE Voraussetzungen für die gesunde Entwicklung eines Babys und Kleinkindes und die beste Prävention für Trauma!

Das heißt im Umkehrschluss auch, dass wenn wir den Weg zurück zu einer weniger traumatisierten Gesellschaft gehen wollen, dann müssen wir genau diese Qualitäten wieder zurückgewinnen!

Nur wir können die Stop-taste drücken. Das kann niemand für uns tun.

 

………Bis hierhin hatte ich im Februar geschrieben…..

 

Und dann, hat doch etwas die Stop-Taste gedrückt. Corona. Für viele gabs die lang ersehnte Pause, aber längst nicht für alle und manche standen danach unter dreifacher Belastung. Vor allem Ärzte und Krankenhauspersonal (Falls ihr das lest: DANKE an EUCH!). Und für andere auch, die im Homeoffice plötzlich neuen Herausforderungen gegenüber standen. Und auch vielen Überforderungen, wie nun 24/7 mit den Kids (oder dem Partner, oder beides) zuhause zu sein und womöglich trotzdem 40 Stunden arbeiten, in Nachtschicht, weil tagsüber sind ja die Kinder da. Um nur ein paar Beispiele zu nennen....

Wir brauchen diese Pause soooo dringend. Zum spüren, nachdenken, hinterfragen, von dem, was so normal geworden ist. Wie nachhaltig ist das Leben, das wir gerade Leben? Und wollen wir das so? Welchen Preis zahlen wir dafür?

Corona schenkt uns mit der Krise auch eine große Chance für ein Umdenken, ein weiterdenken. Neue Entscheidungen treffen, durch Prozesse hindurch gehen und sich transformieren und diese Transformation dann in die Welt hinaustragen. Die einzige Chance die wir haben, ist es gemeinsam ein neues Feld zu erschaffen. Ein Feld der Heilung und Transformation. 

Damit es weniger" to go" gibt, und wieder mehr Zeit zu bleiben.

Damit es wieder mehr Menschen werden, die zuhören und die Zeit haben. Und die Wissen wie Präsenz und Kontakt geht, für uns, aber auch damit wir all das weitergeben können an die Generationen die noch kommen werden.

An dieser Stelle möchte ich nochmal ein Zitat von Michael Winterhoff (Kinderpsychiater) teilen, dass ich im Artikel "Stand by me" schonmal geteilt habe, er passt hier einfach so gut hin:

"Das Kind muss eine Chance haben, sich an Erwachsenen zu orientieren, die in sich ruhen. Jetzt schauen Sie sich mal den Erwachsenen an, wie dramatisch er sich verändert hat. Gehen Sie in die Stadt, schauen Sie in die Gesichter: gehetzt, genervt, gereizt und depressiv. Und wenn Sie einen haben, der strahlt und entspannt ist, denken Sie schon fast, er hat Drogen genommen."

Und es liegt an uns das zu ändern!